Magie aus dem 3D-Drucker

Über „Kleine Ängste III“ von Angela

Ich bin aufgeregt, denn ich werde das erste Mal an einem Live Action Roleplaygame, kurz LARP, teilnehmen.
Das Ganze kann man sich als eine Art Laienimprovisationstheater vorstellen, bei dem das Drehbuch geheim ist.
Man übernimmt die Rolle einer gewählten Figur innerhalb einer Geschichte und spielt sie entlang des Plots, der von der SL (Spielleitung) vorgegeben wird.
Nur eben nicht auf einer Bühne, sondern  beispielsweise einem Lager oder in diesem Fall einem alten Gutshof in Niedersachsen. Inklusive Verkleidung, Make-up und benötigter Requisite. Neben den Spielercharaktern (SCs) sind auch Nicht-Spieler-Charaktere (NPCs) anwesend sein, die in die Hintergründe eingeweiht sind, wichtige Hinweise liefern und diskret das Geschehen vorwärts treiben können.

Erfahren habe ich von dem LARP, das in einer deutschen Version des Harry-Potter-Universums spielt, über einen Follower auf Twitter und außer diesem einen Kontakt dort kenne ich auch niemanden. Die Anmeldung geschah online auf der Webseite des Vereins, der das LARP ausrichtete. Über mich selbst will man hier nur wenig wissen, Name, Telefonnummer und E-Mail-Adresse, Rollenspielerfahrungen. Dass ich noch nie ein LARP mitgespielt hat, ist ebenfalls nicht von Bedeutung. Wichtiger ist mein Charakter, den ich so detailliert wie möglich beschreiben soll, damit sie in das Spielgeschehen gut eingebaut werden kann.

Ein E-Mail-Austausch sowie ein kurzes Telefonat mit einem Mitglied der SL bestätigt  meine Anmeldung: Ich werde eine Reporterin einer magischen Zeitung spielen, die den mysteriösen Geschehnissen vor Ort auf den Grund gehen möchte. Das Kostüm konnte ich mir kostengünstig auf der Second-Hand-Plattform Kleiderkreisel zusammenstellen, denn glücklicherweise kleiden sich Hexen in diesem Universum nicht so sehr anders als viele normale Menschen auch. Auf Etsy, einer Online-Plattform zum Verkauf selbstgemachter Dinge, habe ich zudem einen in einer Schreinerei gehobelten Zauberstab erworben. Der sieht hübsch aus, selbst kann er allerdings nichts. Daher zählt zu meiner Ausrüstung auch eine kleine Taschenlampe mit Dynamo, die ich für Lichtzauber nutzen werde.

Bisher habe ich nur auf Papier oder dem Tablet rollengespielt, am Tisch mit einer Gruppe oder über den Sprachchat Discord, die Rolle also höchstens mit der Stimme verkörpert und auch nicht durchgehend, sondern nur ein paar Stunden lang. Hier soll Tag und Nacht gespielt werden, man befindet sich ständig “in time” – IT. Das Gegenteil, OT (out time), soll in Interaktionen wenn möglich vermieden oder wenn jenseits vom Spielgeschehen stattfinden. All das ist nachzulesen in den Spielregeln, die auf der Vereinswebseite zur Verfügung stehen. Hier findet sich auch eine Liste von Zaubersprüchen, die meinem Charakter bekannt sein sollten – spricht jemand beispielsweise einen Vergesszauber auf mich, muss ich wissen, wie ich in diesem Moment zu reagieren habe. Ich notiere mir die Sprüche in einem Notizbuch, das ich als Reporterin als Arbeitshandwerkzeug natürlich dabei habe. Was mir kurz vor Abfahrt noch fehlt ist eine Uhr – ich erwarte nicht, dass ich mein Smartphone ständig griffbereit haben darf und möchte schon gerne ohne Nachfragen wissen, wie spät es ist. Unsere im Haus ausgegrabenen Analoguhren haben alle längst tote Batterien. Unterwegs stoppe ich daher kurz in einem Ein-Euro-Laden und kaufe mir die erste analoge Armbanduhr seit mindestens 20 Jahren.

Schon die Anfahrt ist recht abenteuerlich, denn der Weg zu dem Spielort liegt an einer frisch ausgebauten Umgehungsstraße, die Google Maps und somit Android Auto nicht kennt. Nach kurzen Irrwegen durch die ländliche Umgebung Oldenburgs komme ich aber doch pünktlich an und muss mich laut Infomail bevor das Spiel losgeht mit meinem Charakter einchecken. Alle Gegenstände, die ich bei mir trage, gelten als IT, es sei denn, ich verstaue sie in einem vorher gekennzeichneten Beutel. Hier lagere ich ein bisschen Proviant, mein Smartphone, die Autoschlüssel, meinen Geldbeutel und ein Aufladegerät. Ein Mitglied der SL verzeichnet meine Ankunft in einem Laptop und auf Papier, ebenfalls eine Glasflasche mit einem (unsichtbaren, denn die Flasche ist nicht dicht) Zaubertrank, den ich jetzt ganz offiziell einmal einsetzen darf: “Trinkt” ihn jemand, muss diese Person mir mit SL-Unterstützung drei Fragen wahrheitsgemäß beantworten. Entgegen meiner Erwartungen für drei Tage offline zu sein, wird mir auch IT erlaubt, mein Smartphone zur Kommunikation mit meinem fiktiven Chefredakteur zu benutzen, wenn auch nur an einem bestimmten Punkt im Garten. Für eine Reporterin des 21. Jahrhunderts mit nicht-zaubernden Eltern (Muggel) ist es auch in der Zaubererwelt realistisch, ein Smartphone zu besitzen.

Als alle Mitspielerinnen und -spieler angekommen sind, stellt sich das Team der Spielleitung kurz vor und die ersten technischen Aspekte des Spiels werden sichtbar: Die SL kommuniziert per Funk und Knopf im Ohr miteinander, später erfahre ich, dass es Leihgeräte sind. Gekleidet sind sie schwarz, mit einem fluoreszierenden Aufdruck auf dem Rücken. Zudem tragen sie nachts alle LEDs, um im Fall der Fälle schnell auffindbar und ansprechbar zu sein.

Dann verlasse ich als Angela kurz den Gasthof und reise als Terry, mein gespielter Charakter an. Die Rolle lege ich in den folgenden Tagen nur bei kurzen Fragen zwischendurch (zum Beispiel nach einem Föhn, den ich zu Hause vergessen habe) und Unterhaltungen mit meinem Zimmergenossen hinter geschlossener Tür ab.

Im Laufe des Spiels taucht noch mehr Technik auf, wie beispielsweise versteckte Lautsprecher. Unheimliche Geräusche spielen im Plot eine große Rolle. Es gibt ein Radio, über das die SL, ich nehme an via Bluetooth, wichtige Nachrichten einspielt. Auch eine Zaubererzeitung liegt aus, am Computer verfasst und ausgedruckt, sowie eigens für den Plot hergestellte Bücher. Einige sind per Hand geschrieben, andere mithilfe von Layout- und Grafikprogrammen gestaltet. Viele der erfahreneren Spielerinnen und Spieler haben vorgefertigte Visitenkarten ihrer Charaktere dabei, sehr hilfreich, um sich Name und Rolle zu merken. Beim nächsten Mal, so nehme ich mir vor, werde ich mir ebenfalls welche drucken lassen. Später im Plot sind kleine Statuen von Märchen- und Sagengestalten von Bedeutung. Diese, so erfahre ich nach dem Spiel, wurden extra für das Wochenende per 3D-Druck hergestellt.  Bei nächtlichen Kämpfen gegen Unholde lassen versteckte Schwarzlichtscheinwerfer fluoreszierendes Make-Up und einen Zaubertrank aufleuchten, mit dem der große Bösewicht  im Finale übergossen wird.

Nach Spielende dürfen wir Spielerinnen und Spieler auch hinter die Kulissen blicken und einen Gebäudetrakt betreten, der uns im Spiel nicht zugänglich war. Hier wohnte während des Spiels die Spielleitung, hielt über Funk miteinander und den NPCs Kontakt, zog Kostümwandel der teilweise doppelt und dreifach besetzten NPCs durch, beantwortete Nachrichten per Smartphone oder Fledermauspost und führte über Laptops die Fäden des Plots zusammen. Hier befindet sich auch die Küche, in der wir jetzt helfen, aufzuräumen. Dabei bediene ich das erste Mal einen industriellen Geschirrspülautomaten, der eine Ladung Geschirr innerhalb 30 Sekunden spülen kann.

Erst beim Verabschieden erfahre ich die richtigen Namen meiner Mitspielerinnen und -spieler und verknüpfe mich mit ihnen über WhatsApp, Twitter und Facebook und das vereinseigene Forum. Schon bald wird der Folgetermin im nächsten Jahr angekündigt – und jetzt, wo ich weiß, was mich erwartet, freue mich sogar noch mehr darauf.

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Dieser Artikel erschien ursprünglich im Techniktagebuch.